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Simone Langendörfer und Helga König im Gespräch mit Steffi Bieber -Geske, Journalistin, Kinderbuchautorin und Verlegerin

Liebe Steffi  Bieber-Geske, Sie sind Journalistin, Kinderbuchautorin, Verlegerin und Mutter von zwei kleinen Kindern. Wir freuen sehr uns, dass Sie sich entschieden haben, am Interviewprojekt "Wann ist eine Kindheit kinderecht?" teilzunehmen. 

Simone Langendörfer: Werden Kinder heute extrem auf Leistung "gedrillt" und falls ja, wodurch entsteht dieser Leistungsdruck? 

Steffi Bieber-Geske
Steffi  Bieber -Geske: Die meisten Kindergärten haben heute ein offenes Konzept. Das bedeutet, die Kinder können bis zu ihrem 6. Geburtstag weitgehend machen, worauf sie gerade Lust haben. An vielen Grundschulen heißt es dann plötzlich: hinsetzten, Klappe halten und machen, was der Lehrer sagt. Viele Kinder verkraften diesen abrupten Übergang nicht und verlieren schon im ersten Schuljahr die Lust am Lernen. Gleichzeitig werden sie schon ab der 1. Klasse unter Leistungsdruck gesetzt und sollen möglichst in zwei Jahren alle Rechenarten, perfekt lesen und zwei Arten zu schreiben lernen. 

Das Problem: Vielen Lehrern geht es in erster Linie darum, den antiquierten Lehrplan zu erfüllen. Damit reagieren sie auf die gesellschaftlichen Anforderungen und natürlich auch auf Druck vieler Eltern, die verständlicherweise wollen, dass aus ihren Kindern mal etwas wird. Dass der momentan eingeschlagene Weg genau das Gegenteil bewirkt, sehen wir anhand der immer schlechter werden Leistungen der Schulabsolventen und der Tatsache, dass viele Unternehmen ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen können, weil die Bewerber keinen fehlerfreien Satz schreiben können und mit den Grundrechenaufgaben überfordert sind. 

Helga König:  Was heißt für Sie Kindsein und meinen Sie, dass"Kindsein" in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einfacher war? 

Steffi  Bieber -Geske: Kindsein heißt für mich, die Welt entdecken zu dürfen – und zwar im geschützten Rahmen einer liebevollen Familie. Das ist schwierig. Meine Freunde und ich waren in unserer Kindheit in den 1980er Jahren manchmal den ganzen Tag draußen unterwegs – ohne Erwachsene. Und keinem von uns ist je etwas passiert. Ich lasse meine Kinder ohne Aufsicht nur in unserem eigenen Garten und bei Freunden spielen. Ich habe einfach zu große Angst, dass ihnen etwas zustößt. So sehr ich ihnen die Freiheit, die ich hatte, wünschen würde, mein Bedürfnis, sie zu schützen, ist größer. Dass uns Eltern diese Angst natürlich auch von den Medien gemacht wird, ist mir völlig klar. Sie zu überwinden, fällt mir wie vielen Müttern trotzdem sehr schwer. 

 Simone Langendörfer
Simone Langendörfer: Was müsste sich in den Schulen ändern, um Kinder wirklich glücklich zu machen? 

Steffi  Bieber -Geske: Auch wenn es banal klingt: Die Schulen müssten die Kinder endlich in den Mittelpunkt stellen und individuell fördern. Jedes Kind hat andere Talente und sollte für seine Leistungen und Anstrengungen gelobt werden, statt mit schlechten Noten bestraft zu werden, weil es in irgendeinem Bereich vielleicht etwas langsamer lernt. Kinder wollen lernen und sie wollen die Eltern und Lehrer stolz machen. Dazu braucht es keinen Druck und auch keine Noten. Stattdessen sollte vor allem an den Grundschulen die Freude am Lernen, die spielerische Wissensvermittlung, das Lernen durch Ausprobieren Priorität haben. Lesen lernen Kinder zum Beispiel am besten, wenn es sie interessiert, was dort steht. 

Wenn das ein Superhelden-Comic oder ein Tier-Magazin ist, warum müssen die Leseanfänger stattdessen in der zweiten Klasse schon Kinderbuchklassiker lesen? Wichtig ist doch zunächst, dass sie das Lesen lernen und Freude dabei empfinden – dann lesen sie später auch freiwillig andere Literatur. Und was es bringen soll, ein Kind zu zwingen, ein Gedicht auswendig zu lernen, das es gar nicht verstehen kann, erschließt sich mir einfach nicht. 

Ich sehe auch keinen Grund, warum man in Fächern wie Kunst, Musik und Sport Noten geben muss. Ich kann doch ein Kind nicht dafür bestrafen, dass es klein ist und darum nicht weit springen kann oder dafür dass es nun mal keine schöne Singstimme hat. Macht es nicht viel mehr Sinn, wenn Kinder Spaß daran haben, sich zu bewegen, verschiedene Musikstile – auch moderne – kennen lernen und Instrumente ausprobieren dürfen oder frei zeichnen, basteln und töpfern können, um ihre Gefühle auszudrücken? 

Und warum muss sich ein Teenager ohne jedes Interesse für Mathematik mit der Integralrechnung quälen? Wäre nicht eine breite Allgemeinbildung in allen Bereichen viel wichtiger als Spezialthemen, die 90 Prozent der Schüler in ihrem ganzen Leben nie wieder brauchen? Warum steht an den amerikanischen Highschools Fächer wie Kreatives Schreiben, Rhetorik, Babysitting oder Reparaturen auf dem Stundenplan – während wir uns an Altbewährtes klammern und eine ganze Generation lebensunfähiger und auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbarer Jugendlicher ins Leben entlassen? 

Helga König: Welche Rolle spielen Eltern beim Thema "Doping für Kinder"? 

 Steffi Bieber-Geske
Steffi  Bieber -Geske:  Wir jungen Eltern fühlen uns immer häufiger überfordert – vom Alltag, vom Beruf, von unseren Kindern. Wenn in einer solchen Stresssituation ein Kinder ständig "quer schießt", ist es verständlich, wenn verzweifelte Eltern nach dem "Rettungsanker Medikament" greifen, wenn der Arzt ihnen erklärt, ihr Kind bräuchte das. Man muss schon viel Selbstbewusstsein besitzen, um dann zu sagen: Mein Kind ist nicht krank, es ist ein Kind! Ich würde mir wünschen, dass wieder mehr Eltern dieses Selbstbewusstsein entwickeln und selbst spüren, was ihr Kind braucht. Doch das wird nur gelingen, wenn wir aus diesem Teufelskreis aus Zeitdruck, Erfolgsdruck und Existenzangst ausbrechen. Und das werden in den nächsten Jahren immer mehr Menschen tun. 

Simone Langendörfer:  Weshalb sind so viele Kinder trotz materiell guter Bedingungen unglücklich?

Steffi  Bieber -Geske:  Weil 6-Jährige kein I-Phone und keine Playstation brauchen, sondern Eltern, die mit ihnen an den See fahren, in den Wald gehen, ins Kino oder Eis essen. Dafür braucht man gar nicht so viel Geld, aber Zeit. Und die fehlt den meisten von uns leider. Wenn sich endlich beide Elternteile gleichberechtigt Erwerbs- und Familienarbeit teilen dürften, ohne dafür am Existenzminimum leben zu müssen, sehe ich Chancen dafür. Die 30-Stunden-Woche für Mütter und Väter bei teilweisem Gehaltsausgleich durch den Staat wäre für mich ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Gleichzeitig müssen die Arbeitgeber endlich verstehen, dass auch Väter ein Recht darauf haben – und auch die Pflicht dazu –, ihre Kinder großzuziehen. Und die Väter müssen sich dieses Recht auch einfordern. Ich glaube, dass meine Generation hier gerade wichtige Pionierarbeit leistet. 

 Helga König
Helga König: Sollten Eltern den Ärzten mehr misstrauen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht? 

Steffi  Bieber -Geske:  Auch wenn man seinem Kinderarzt vertrauen können sollte, darf man seinen gesunden Menschenverstand und den natürlichen Instinkt, mit dem Eltern in der Regel wissen, was gut für ihr Kind ist, nicht am Empfang abgeben. 

Helga König: Was denken und empfinden Sie, wenn sie ein depressives, ein verträumtes oder ein extrem aufgedrehtes Kind erleben? 

Steffi  Bieber -Geske: So sind Kinder – mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Aber wenn ein Kind immer traurig, geistig abwesend oder total aufdreht ist, sollte man natürlich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. In vielen Fällen wir man mit Ergotherapie einiges erreichen können – und die Kinder haben auch noch Spaß dabei. 

Simone Langendörfer: Was könnten Eltern, Lehrer und die Politik tun, damit Kindern das Lernen wieder Freude bereitet? 

 Steffi Bieber-Geske
Steffi  Bieber -Geske: Indem Eltern und Lehrer den Druck rausnehmen und die Kinder wieder Kinder sein lassen, statt sich darüber Gedanken zu machen, ob es das Kind auch aufs Gymnasium schafft. Vor allem ist meines Erachtens aber die Politik gefragt, die einiges auf den Kopf stellen müsste. Sie könnte die Eltern finanziell so entlasten, dass diese mehr Zeit für ihre Kinder hätten. Sie könnte die Ausbildung der Lehrer modernisieren und Lehrer und Erzieher besser bezahlen, damit die talentiertesten Absolventen nicht andere Karriereoptionen wählen. 

Die Politik könnte die Schulen und Kitas finanziell anders ausstatten, damit der Personalschlüssel besser wird und moderne Lernmittel angeschafft werden können. Ein Kernpunkt für mich: Vor allem die Kinder aus einkommensschwachen Familien könnte man viel besser unterstützen, indem kein Kindergeld mehr an die Eltern ausgezahlt wird, sondern das Geld direkt den Kindern zugute kommt, zum Beispiel durch kostenlose Kita-Plätze inklusive Verpflegung oder durch Schulen, an denen alles kostenlos ist: von Lernmaterialien und Kleidung über vier Mahlzeiten am Tag bis zu Arbeitsgemeinschaften, Ausflügen und Klassenfahrten. So würde sichergestellt werden, dass alle Kinder in Deutschland mit ähnlichen Chancen ins Leben starten. 

Helga König: Gibt es in Deutschland eine „Armut an Liebe und Geborgenheit“? 

Steffi  Bieber -Geske:  Ja, weil hochgradig gestresste, überforderte Menschen keine Geborgenheit vermitteln können. Und das von der Politik auch nicht unterstützt wird – schauen Sie sich doch die Zustände in den Krankenhäusern und Altenheimen an. Dort wird gespart, koste es was es wolle. Zuwendung und Geborgenheit braucht Zeit. Und in einer Gesellschaft, in der hilfsbedürftige Menschen wie Kinder und Senioren nicht als Bereicherung empfunden werden, sondern als Last, mangelt es an allen dreien. 

Simone Langendörfer: Warum sind gerade in Deutschland so viele Menschen unzufrieden und unglücklich? 

 Steffi Bieber-Geske
Steffi  Bieber -Geske:  Weil wir vergessen haben, worauf es im Leben wirklich ankommt und es uns, selbst wenn wir das erkannt haben, schwer fällt, einen Ausweg aus dem Hamsterrad zu finden. Und weil die immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich ein ständiges, diffuses Gefühl der Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit fördert. Vor allem die Mittelschicht fühlt sich zunehmend als „Melkkuh“ der Nation und wird darum langsam ähnlich unzufrieden wie die einkommensschwachen Schichten. Eine solche Stimmung ist gefährlich und fördert Intoleranz und Hass. Darum herrscht von Seiten der Politik dringender Handlungsbedarf.

Liebe Steffi Bieber-Geske, besten Dank für das aufschlussreiche Interview.

Ihre Helga König, Ihre Simone Langendörfer

Kinderbuchverlag Biber & Butzemann
Steffi Bieber-Geske
Geschwister-Scholl-Str. 7
15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/83031025
  

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