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Helga König im Gespräch mit Thomas Schäfer, Autor und Familientherapeut

Lieber Thomas Schäfer, Sie sind Autor zahlreicher Bestseller und Heilpraktiker mit Schwerpunkt Psychotherapie und Familienaufstellung. Ich freue mich, dass Sie am Interviewprojekt "Wann ist eine Kindheit"  kindgerecht teilnehmen.

Helga König: Werden Kinder heute extrem auf Leistung "gedrillt" und falls ja, wodurch entsteht dieser Leistungsdruck? 

Thomas Schäfer
Thomas Schäfer: Die heutige Elterngeneration erlebt in Gesellschaft und Beruf immer höhere Anforderungen. Der Konkurrenzkampf hat zugenommen. Wer eine Stelle hat, der kann sich nicht auf ihr ausruhen, denn oft ist sie nur befristet. Die Angst sitzt einem ständig im Nacken. Um es ihren Kindern "leichter" zu machen, werden diese deshalb schon früh gedrillt. 

Helga König: Was heißt für Sie Kindsein und meinen Sie, dass "Kindsein" in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einfacher war? 

Thomas Schäfer:  Kindsein bedeutet u.a. für mich, dass Kinder viel unstrukturierte Zeit ihr eigen nennen, die sie kreativ verbringen können, in der sie Dinge ausprobieren können... Früher ist man mit Fahrrädern im Wald herumgestreunt, hat Baumhäuser gebaut usw. Das gibt es heute kaum noch... Kinder habe immer weniger eigene Zeit. In den USA lernen schon 1- bis 2-Jährige perfekt mit dem smartphone umzugehen. Wichtige Hirnareale, die durch "natürlichere und menschengemässere Hand- und Fingerstimulation" üblicherweise in dieser Zeit stimuliert werden, verkümmern so... Kindsein war in der Tat früher - von den ganzheitlichen Entwicklungsmöglichkeiten her - einfacher. 

Helga König
Helga König: Was müsste sich in den Schulen ändern, um Kinder wirklich glücklich zu machen? 

Thomas Schäfer:  Die Tendenz, pädagogische "Führung" zu verteufeln und statt dessen Lehrer nur als "Lernbegleiter" zu sehen, wie das immer häufiger der Fall ist, schadet den Kindern sehr. Es beginnt ja schon im Kindergarten, dass Kinder aufgerufen werden, täglich zu wählen, welche Gruppe sie denn heute besuchen. Wenn sowohl die Auswahl der Unterrichtsinhalte (Gemeinschaftsschulen), die Aufrechterhaltung einer angenehmen Lernatmosphäre und vieles andere in erster Linie den Kindern aufgebürdet wird und Lehrer nur "beratend" zur Seite stehen: wo soll das hinführen? 

Eine meiner Patienten arbeitet an einer solchen "innovativen" Schule als "Lernbegleiterin", sie hält es psychisch kaum noch aus... Konrad Paul Liessmann hat in seinem lesenswerten Buch "Geisterstunde - Die Praxis der Unbildung" alles Wichtige zum Thema gesagt. Wir benötigen Lehrer, die sich trauen, liebevoll und kompetent durch den Unterricht zu führen. Wenn jedoch die Kultusministerien das nicht mehr wollen, dann wird es keine umfassende Bildung an Schulen mehr geben. Es gibt tatsächlich Schulen, da wird es absichtlich vermieden, Diktate zu schreiben: denn niemand soll "diskriminiert" werden.. die Fehlertoleranz soll höher und höher werden, weil wir "alle in ein Boot nehmen wollen". Diesen Ansatz halte ich pädagogisch für fatal. Glück besteht für Kinder nicht darin, dass sie in der Schule alles tun dürfen, was sie wollen, sondern darin, dass sie verständnisvoll gefördert und gefordert werden und auch Stolz auf ihre Leistung entwickeln. 

Helga König: Welche Rolle spielen Eltern beim Thema "Doping für Kinder"? 

  Thomas Schäfer
Thomas Schäfer:  Bei AD(H)S werden als Medikamente Methylphenidat (Ritalin), Atomoxetin und Amphetaminsulfat verabreicht, damit es in der Schule wieder "läuft".... Die Diagnose AD(H)S ist mittlerweile die häufigste diagnostizierte Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen. Das wirft Fragen auf. Hat diese Störung tatsächlich in den letzten Jahren so intensiv zugenommen? Oder liegt all das nur daran, dass die Medizin ihre neue "diagnostische Brille" vermehrt einsetzt? 

Da zu Struwwelpeters Zeiten keine solchen Diagnosekriterien vorlagen, gab es keinen einzigen ADHS-Fall! Aber es gab Zappelphilippe... Der Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Die extreme Zunahme von digitalen Medien (Smartphone, Tablets, Play-Stations) führt tatsächlich zu kognitiven Veränderungen der Kinder, die ihnen schaden. Wer stundenlang mit gesenktem Haupt nur noch wild auf irgendwelche Tasten drückt, der entwickelt sich mental und sozial völlig anders als ein Kind aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das den ganzen Nachmittag Räuber und Gendarm spielte, auf der Straße und im Wald herumtollte, Seifenkisten bastelte usw.... In den Büchern des Psychiaters Manfred Spitzer kann man diese Dinge wissenschaftlich fundiert nachlesen. Eltern machen, was Ärzte ihnen raten... Damit die Kinder im Leistungswettrennen mithalten können, machen sich viele Eltern zu wenige Gedanken über die Einnahme dieser Medikamente und deren Folgen. 

In der Tat stören medikamentierte Kinder anschließend nicht mehr so viel den Unterricht und sind leistungsstärker, doch Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade der kindliche Körper im Gegensatz zum Körper des Erwachsenen Psychopharmaka besonders schlecht verarbeitet und bei deren Verarbeitung Schädigungen innerer Organe möglich sind. Auch Kinder, die eher still und verträumt sind und "nur" unter mangelnder Aufmerksamkeit leiden, erhalten nicht selten Ritalin. Ein verantwortungsbewusster Arzt wird die richtige Entscheidung nach vorgenommener ausführlicher Diagnostik treffen. Diese aufwändige Diagnostik ist auch notwendig, um auszuschließen, dass das Kind an Depressionen oder einer Angststörung leidet. 

Bei Kindern können Depressionen sich ganz anders zeigen als bei Erwachsenen und schnell mit ADHS verwechselt werden! Ebenfalls bei Angststörungen kommt dies immer wieder vor. Mein Appell: sowohl Eltern als auch Ärzte sollten verantwortungsvoller prüfen, ob der Nutzen dieser Medizin im Verhältnis zu den zu erwartenden körperlichen Schäden beim Kind stehen. Auch dies ist kein Geheimnis: die pharmazeutische Industrie hat an einem solchen vorsichtigen Umgang mit diesen Medikamenten keinerlei Interesse!

 Helga König
Helga König: Weshalb sind so viele Kinder trotz materiell guter Bedingungen unglücklich? 

Thomas Schäfer:  ...weil sie nicht erhalten, wonach sie sich eigentlich sehnen: Erwachsene, die sie nicht nur lieben, sondern ihnen auch stabile Grenzen setzen, an denen sich die Kinder reiben können. Gerade das Erleben der geduldig gesetzten Grenze lässt Kinder seelisch reifen. Einen ruhigen Widerstand eines Erwachsenen zu erleben, fördert psychische Reifung! Diese Möglichkeit stehlen wir den Kindern, indem wir sie als Prinzen und Prinzessinnen behandeln. Das gefällt ihnen allerdings nur vordergründig - tief in sich leiden sie. 

Helga König: Sollten Eltern den Ärzten mehr misstrauen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht?

Thomas Schäfer:  Auch heute gibt es noch gute Ärzte und alternativmedizinische Behandler! Zum Glück! Es gilt, den "richtigen" Arzt zu finden, dem man vertrauen kann. Ein solcher Behandler orientiert sich am Bedürfnis des Kindes und nicht an dem der Krankenkassen oder der pharmazeutischen Industrie. Wer sich an seinem Wohnort im Bekanntenkreis gründlich umhört, wird Hinweise auf gute Behandler erhalten! 

Helga König: Was denken und empfinden Sie, wenn sie ein depressives, ein verträumtes oder ein extrem aufgedrehtes Kind erleben? 

  Thomas Schäfer
Thomas Schäfer:  Beim depressiven Kind frage ich mich, ob sich dessen Eltern schon einmal überlegt haben, ob das Kind familiensystemisch etwas für sie trägt, das man durch eine Familienaufstellung lösen kann. Bei den beiden anderen Kindern frage ich mich: Ist das "Verträumte" und das "Aufgedrehte" jeweils nur ein Phase? Dann ist alles gut! Jedes Kind darf mal aufdrehen und mal verträumt sein! Das müssen die Erwachsenen aushalten. Nur wenn es sich um einen Dauerzustand handelt, besteht Handlungsbedarf. 

Helga König: Was könnten Eltern, Lehrer und die Politik tun, damit Kindern das Lernen wieder Freude bereitet?

Thomas Schäfer:  Alles zur Frage 3 gesagt wurde, gehört Satz für Satz wieder hierher. Schlüssel für das Ganze ist die Stärkung der Position des Lehrers! Lehrern sollte von Eltern, Gesellschaft und Politik wieder erlaubt werden, Lehrer zu sein und nicht opportunistische "Lernbegleiter". In den Schulen wird die Stellung der Lehrer ständig untergraben, weil die Eltern sich mit den Kindern gegen die Lehrer verbünden, statt gemeinsam mit den Lehren nach Lösungen zu suchen. Immer öfter wird den Lehrern bei Konflikten mit dem Rechtsanwalt und Beschwerden bei der Schulaufsicht gedroht. Rektoren lassen ihre Lehrer oft bei solchen Gelegenheiten nicht selten im Regen stehen, weil man ja "kundenorientiert" sein möchte und kein Risiko sinkender Anmeldezahlen in Kauf nehmen möchte. Welche Achtung können Kinder ihren Lehrern und später ihren Berufsausbildern entgegenbringen, wenn die Eltern sich ständig mit ihnen gegen die Lehrer solidarisieren? 

Dies gipfelt schön in einem Ausruf, den ich in Elternberatungen immer wieder höre: "Ich bin doch der Freund meines Kindes! Was erwarten Sie da von mir?" Ist es da ein Wunder, wenn die Kinder die Pädagogen nicht mehr ernst nehmen? Wie soll man da mit Freude und Achtung in der Schule lernen, wenn man die Lehrer gefahrlos mit elterlicher Hilfe jederzeit lächerlich machen und demontieren kann? Sowohl als Vater zweier Kinder bei Elternabenden als auch in Beratungen in meiner Praxis werde ich immer wieder mit diesem Problem konfrontiert.

 Helga König
Helga König: Gibt es in Deutschland eine "Armut an Liebe und Geborgenheit"?

Thomas Schäfer: Um diese Frage zu beantworten, möchte ich einen kleinen Exkurs machen: Schackensleben (Autobahn A2, 31.1.2015) - es ist eine schreckliche Vorstellung: Man hat einen Unfall, liegt hilflos auf der Straße, doch keiner hilft! Zahlreiche Autofahrer haben sich am Samstag so verhalten - schlimmer noch: Sie fuhren langsam um die Opfer herum,, machten Fotos von der Unfallstelle - und brausten weiter. Die Polizei sprach von einem "unbeschreiblichen Verhalten" dieser Autofahrer. Sie hätten sich über einen längeren Zeitraum über den Standstreifen am Unfallort vorbei gedrängelt, ohne zu helfen. Auf der Straße liegende schwer verletzte Unfallopfer seien regelrecht umkurvt worden. (web.de-Nachrichten: http://web.de/magazine/panorama/autofahrer-fotos-verletzte-liegen-30413862, abgerufen am 1.2.2015) Machen wir uns klar: Unter den vielen Vorbeifahrenden waren zahlreiche Väter und Mütter - heutige "Otto Normalverbraucher" Wieviel "Liebe", wieviel "Seele" steckt in diesen Eltern, die sie ihren Kindern weitergeben können? Die "digitale Revolution" entfremdet uns immer mehr von unserem Körper, unserer Seele unserem Fühlen... Die Verknüpfung dieser gesellschaftlichen Umwälzung mit dem kapitalistischen Prinzip der "maximalen Profitmaximierung" ist für uns alle fatal - nicht nur für die Entwicklung unserer Kinder. 

Helga König: Warum sind gerade in Deutschland so viele Menschen unzufrieden und unglücklich?

Thomas Schäfer:  ...vielleicht sind das Nachwirkungen der großen historischen Schuld des Dritten Reiches, die wir Deutschen tragen. Stets fühlen wir uns (unbewusst) in einer großen Schuld.

Lieber Thomas Schäfer, ich danke Ihnen vielmals für das aufschlussreiche Interview

Ihre Helga König

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