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Simone Langendörfer und Helga König im Gespräch mit Thomas Hohensee, Coach und Autor

Lieber  Thomas Hohensee  Sie haben als Volljurist gearbeitet, bevor Sie eine Ausbildung am Deutschen Institut für Rational-Emotive und Kognitive Verhaltenstherapie gemacht haben. Als Coach und Buchautor leben Sie nun in Berlin.

Wir sind neugierig auf Ihre Antworten zum Thema "Wann ist eine Kindheit kindgerecht?"

Simone Langendörfer: Werden Kinder heute extrem auf Leistung  "gedrillt" und falls ja, wodurch entsteht dieser Leistungsdruck?

Thomas Hohensee
Foto: Annette Koroll
Thomas Hohensee: Unsere Gesellschaft basiert auf dem Konkurrenzsystem. Die Zugänge zu weiterführenden Ausbildungen - Lehrstellen, Studium usw. - werden künstlich verknappt (entgegen dem Grundrecht auf freie Berufswahl und Berufsausübung!). Die Arbeitsplätze sind ebenfalls knapp gemacht worden, weil die Produktivität in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, die Arbeitszeit aber gleich geblieben ist. Anstatt hier politische Lösungen zu finden mehr Geld für Bildung statt für Rüstung, 20-Stunden-Woche, etc. - versuchen die meisten, das gesellschaftliche Problem individuell zu lösen, nach dem Motto "Mein Kind soll das Abitur mit 1,0 schaffen. Dann wird es einmal zur Elite gehören. (Egal was aus den Verlierern wird.)" Auf diese Weise werden aber letztlich alle zu Verlierern: die Eltern, die Lehrer - und die Kinder, selbst die "erfolgreichen", weil diese immer befürchten müssen, eines Tages nicht mehr so leistungsfähig zu sein und dann doch abzustürzen.

 Helga König
Helga König: Was heißt für Sie Kindsein und meinen Sie, dass  "Kindsein" in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts einfacher war?

Thomas Hohensee: Kinder sind sehr junge Menschen, die sehr viel lernen müssen, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes auf eigenen Beinen stehen können. Daran ändert sich nichts. Kindsein ist immer schwierig, weil die menschliche Existenz an sich nicht einfach ist. Insofern würde ich vor Idealisierungen bestimmter Zeiten warnen. Solange Kriege unser Leben beherrschen, wachsen wir entweder als Vorkriegs-, Kriegs- oder Nachkriegskinder auf. Kindheit in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts war in Deutschland Nachkriegszeit, geprägt durch Entbehrungen, aber auch das "Wirtschaftswunder". Höhen und Tiefen wechselten sich ab. Auch heute gibt es Licht und Schatten. 

Simone Langendörfer
Simone Langedörfer: Was müsste sich in den Schulen ändern, um Kinder wirklich glücklich zu machen?

Thomas Hohensee: Die Schulen müssten demokratisiert werden, und das heißt vor allem, dass die Kinder selbst bestimmen dürfen, was, wann und wie sie lernen wollen. Kinder wollen lernen. Aber nicht immer das, was die Erwachsenen ihnen vorschreiben. Kinder streben wie alle Menschen nach Autonomie und die wird immer noch unterdrückt. Ursache dafür sind ein falsches Welt- und Menschenbild sowie ein perverses Gesellschaftssystem, das mehr an Profit, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg interessiert ist als an der Förderung der Menschen- und Grundrechte. Die Erklärung der Menschenrechte und die Grundrechte unserer Verfassung sollte man unbedingt mal (wieder) lesen. Im Moment erleben wir massive Angriffe auf unsere Grundrechte (Stichwort: Überwachung der Kommunikation durch die Geheimdienste). Der Leistungsdruck in den Schulen und Betrieben ist die Folge einer falschen Politik. 

Helga König: Welche Rolle spielen Eltern beim Thema "Doping für Kinder"? 

 Thomas Hohensee
Foto: Annette Koroll
Thomas Hohensee: Eltern, die sich selbst mit Schmerz-, Beruhigungs-, Aufputsch-, Schlaf- und sonstigen Mitteln dopen, um die Belastungen in ihrem Alltag zu ertragen, finden es wahrscheinlich normal, auch ihre Kinder mit irgendwelchen Medikamenten vollzupumpen. Sie sehen keinen anderen Weg. Diese Fehlentwicklung ist überall zu sehen. Der gesamte Leistungssport ist vermutlich dopingverseucht, nicht nur der Radsport und die Sprintdisziplinen. Kranke Politik, kranke Menschen.  

 Simone Langendörfer
Simone Langendörfer: Weshalb sind so viele Kinder trotz materiell guter Bedingungen unglücklich? 

Thomas Hohensee: Soweit ich das beobachte, sind Kinder trotz aller Zumutungen oft sehr glücklich. Sie sind zum Glück sehr robust, unabhängig von den Umständen. Hier in Berlin gibt es viele Spielplätze, die auch eifrig genutzt werden. Wenn Kinder und Erwachsene trotz materiell guter Bedingungen unglücklich sind, beweist das, dass Geld nicht alles ist. Wir werden leider darauf trainiert, im Konkurrenzkampf zu gewinnen, und unsere Überlegenheit mit Trophäen wie dem Auto, dem Haus, dem Boot usw. zu demonstrieren. Sich dem zu entziehen, ist nicht leicht, aber möglich. 

 Helga König:
Helga König: Sollten Eltern den Ärzten mehr misstrauen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht? 

Thomas Hohensee: Wer von ÄrztInnen sein Wohlbefinden und das seiner Kinder erwartet, hat etwas Entscheidendes nicht verstanden. Gesundheit hängt vom richtigen Essen und Trinken, genügend Schlaf, wohltuender Bewegung, von echten Freundschaften, von der Hygiene, vom Lachen, Tanzen, Singen, Springen und nicht zuletzt sinnvoller, stressfreier Arbeit ab. Was sollen die ÄrztInnen dazu beitragen? 

Simone Langendörfer:   Was denken und empfinden Sie, wenn sie ein depressives, ein verträumtes oder ein extrem aufgedrehtes Kind erleben? 

Thomas Hohensee: Soviel ich weiß, gibt es keine depressiven Kinder im klinischen Sinne, zumindest ist das die absolute Ausnahme, weil die Natur Kinder bis zur Pubertät dagegen immunisiert hat. Aber natürlich gibt es viele Kinder, die unglücklich sind. In ihrer Gegenwart empfinde ich dasselbe, was ich bei unglücklichen, verträumten und aufgedrehten Erwachsenen erlebe. Ich möchte das nicht einfach mit ansehen. Deshalb schreibe ich Bücher darüber, wie man in dieser schwierigen Welt trotzdem relativ glücklich und entspannt leben kann. Einige bekommen das hin. Wenn wir mehr werden, geht es den Kindern automatisch besser; denn anders als Erwachsene können sie sich den äußeren Umständen innerlich kaum entziehen. Übrigens finde ich in der Reihe "depressiv, verträumt, aufgedreht" "verträumt" keinen negativen Begriff. Eine bessere Gesellschaft beginnt mit einem Traum. Deshalb hassen alle Konservativen und Zyniker Visionen von einer besseren Welt. 

Helga König: Was könnten Eltern, Lehrer und die Politik tun, damit Kindern das Lernen wieder Freude bereitet? 

Thomas Hohensee: Eltern, LehrerInnen und PolitikerInnen sollten erst einmal weniger tun und die Kinder mehr in Ruhe lassen. Kinder lernen die ganze Zeit. Es macht ihnen Spaß. Daran sollte man sie nicht durch die Schule hindern. Schulnoten abschaffen, individuelle Förderung, Kooperation statt Konkurrenz, Bildungsangebote statt -zwänge. Mehr glückliche, entspannte Eltern, LehrerInnen und PolitikerInnen, das würde auch schon sehr helfen. 

Simone Langendörfer:  Gibt es in Deutschland eine "Armut an Liebe und Geborgenheit"? 

 Thomas Hohensee
Foto: Annette Koroll
Thomas Hohensee: Der Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Erich Fromm hat gesagt, dass es durchaus Liebe in unserer Gesellschaft gebe. Sie sei allerdings ein Randphänomen. Die Menschen würden unbewusst unter dem Mangel an Liebe leiden. Dem ist bis heute nichts hinzuzufügen. Sein Buch "Haben oder Sein" ist immer noch hochaktuell. 

Helga König: Warum sind gerade in Deutschland so viele Menschen unzufrieden und unglücklich?

Thomas Hohensee: Die Auswirkungen der "Schwarzen Pädagogik", aufgrund derer die Kinder systematisch geprügelt, verängstigt und ohnmächtig gemacht wurden, sind immer noch spürbar. Es ist ein langer Weg, sich davon zu befreien. Der Kampf um die Menschen- und Grundrechte ist ebenfalls nicht vorbei. Vieles ist aber schon besser geworden. Die Emanzipation der Frauen hat den Mädchen mehr und mehr Bildungs- und Berufswege erstritten. Einige Minderheiten haben sich ebenfalls von Unterdrückung befreit. Trotzdem ist noch viel zu tun. Die Schulen, die Kirchen und die Wirtschaft verweigern immer noch die volle Mitsprache und Mitbestimmung. Es ist nachgewiesen, dass Menschen in Diktaturen unglücklich sind. Wir sind seit erst seit 1989 in ganz Deutschland keine Diktatur mehr. Die volle Demokratie haben wir noch nicht erreicht. Viele Grundrechte sind bis heute uneingelöst. Zur Zeit sind sogar wieder starke Kräfte am Werk, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Dagegen müssen wir uns wehren, wenn wir alle zusammen, Kinder und Erwachsene, glücklich und zufrieden leben wollen. Originalnachricht anzeigen

Lieber Thomas Hohensee wir danken Ihnen für das aufschlussreiche Interview

Ihre Helga König, Ihre Simone Langendörfer.

http://www.thomas-hohensee.com/

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