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Helga König und Simone Langendörfer im Gespräch mit Jörg F. Nowack, Lektor und Autor

Lieber Jörg F. Nowack, Sie haben Staatswissenschaften studiert und sind geprüfter Mediengestalter. Als Lektor und Autor arbeiten Sie in Rudolstadt in Thüringen.

Wir freuen uns, dass Sie sich dazu entschieden haben, an unserem Interview-Projekt "Wann ist eine Kindheit kindgerecht" teilzunehmen.

Helga König: Werden Kinder heute extrem auf Leistung "gedrillt" und falls ja, wodurch entsteht dieser Leistungsdruck?

 Jörg F.  Nowack
Jörg F. Nowack: Meines Empfindens nach werden Kinder heute viel zu zeitig viel zu sehr auf Leistung gedrillt. Das beginnt ja zum Teil bereits im Kindergarten bzw. im Kindergartenalter. Es gibt ja kaum noch ein Kind, das jeden Nachmittag seine Freizeit wirklich für sich hat. Fast jedes Kind hat täglich sogenannte »organisierte Freizeitaktivitäten« und Eltern, die diesen Zirkus nicht mitmachen, wird von der Gesellschaft das Gefühl vermittelt, sie seien schlechtere Eltern als die anderen. Dieser Druck entsteht, weil jeder denkt, sein Kind müsse den anderen gegenüber einen Vorsprung haben, um im Leben bestehen zu können. Dabei ist gerade das Gegenteil der Fall. Kinder müssen sich tagtäglich ausprobieren dürfen und das geht nun mal am besten beim Spielen. Bis zum Alter von 12 Jahren können Kinder leichter lernen als danach. Doch übertreiben sollte man das Ganze nicht. Es ist eine ganz andere Situation, wenn ein Kind beispielsweise multilingual aufwächst, weil Eltern und Großeltern in anderen Sprachen reden. Kindergärten sollten sich wieder mehr auf Friedrich Fröbel, den Vater des Kindergartens, besinnen und nach seinen Vorschlägen handeln. Wenn sie dies auch noch den gestressten Eltern beizubringen verstünden, würde deren Stress sicher geringer und einige Kinder mehr hätten möglicherweise die Chance, wieder Kind sein zu dürfen.

 Simone Langendörfer
Simone Langendörfer:  Was heißt für Sie Kindsein und meinen Sie, dass "Kindsein" in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts einfacher war?

Jörg F. Nowack: Kindsein heißt für mich, Erfahrungen sammeln zu dürfen. Ohne Grenzen und ohne Konsequenzen Dinge ausprobieren, viele verschiedene Versuche starten zu dürfen, ohne gleich beim ersten Versuch zum Erfolg verdammt zu sein. Kindsein war in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Grunde auch nicht einfacher als heute. Kindsein ist immer schwer. Allerdings durfte man sich in meiner Kinderzeit noch mehr ausprobieren, als das heute möglich ist. Wir bzw. unsere Eltern wurden nicht wegen einer aus Versehen zerbrochenen Fensterscheibe gleich vor den Kadi gezerrt oder wegen unbefugten Betretens des eigenen(!) Schulgeländes in der Freizeit angezeigt. Insofern war Kindsein damals für alle Beteiligten irgendwie schon einfacher. Doch woran liegt es, dass fast jeder jeden klitzekleinen Fehler seines Nachbarn geahndet wissen möchte? Diese Frage muss jeder Einzelne für sich beantworten.

 Helga König
Helga König: Was müsste sich in den Schulen ändern, um Kinder wirklich glücklich zu machen?

Jörg F. Nowack: Jedes Kind lernt gern. Leider beobachte ich aber immer wieder, wie die Schule den Kindern superschnell und supergründlich jegliche Freude am Lernen nimmt. Weshalb das so ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich kann nur feststellen, dass es so ist. Schule muss wieder mehr Freude machen dürfen. Wir brauchen motivierte und engagierte Lehrer, die den Unterricht spannend und interessant gestalten, damit Lernen zur reinen Freude wird. Ich selbst hatte Lehrer, die ich gern »Schülerflüsterer« nenne. Sie verstanden es, uns von ihrem Unterrichtsstoff so zu begeistern, dass ich sogar heute noch sehr viele Dinge aus meiner Schulzeit weiß. Ich sehe die Situation im Klassenraum vor meinem inneren Auge, als wenn es erst gestern gewesen wäre. – Wenn ich meine mittlerweile erwachsenen Kinder frage, woran sie sich erinnern, ernte ich nur Schulterzucken. Kein einziges Lernerlebnis ist in ihrer Schulbiographie haften geblieben. Begeisterung war bei ihnen wohl fehl am Platz. Liegt es vielleicht daran, dass die Schule nicht in der Lage war, ein solches Lernerlebnis zu organisieren? Wenn die Schule zu meiner Zeit einen Schuldigen für das Versagen suchte, wurde vorbehaltlos überall gesucht. Seit Jahren verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass heute die Schuld nur noch auf Seite der Schüler (und der Eltern) gesucht wird. 

Das System und alle seine Bestandteile scheinen unantastbar zu sein und dürfen absolut nicht hinterfragt werden. Aber die Frage, weshalb es selbst komplizierte Computerspiele schaffen, viele Kinder stundenlang zu begeistern, die Schule aber nicht, muss doch gestattet sein! Schule muss den Kindern vor allem das beibringen, was sie später im Leben brauchen. Und vor allem die Grundlagen wie das Schreiben- und Lesenlernen sind wichtig. Es gibt nicht umsonst das Sprichwort: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Genau die vorhin angesprochene Begeisterung versuche ich mit meinen Büchern, wie dem jüngst im Verlag Biber & Butzemann erschienenen zu erreichen. »Schatzsuche zwischen Saale und Unstrut – Lilly, Nikolas und die Himmelscheibe von Nebra« ist altersgerecht, spannend, aber auch anspruchsvoll geschrieben. Denn nur wenn wir uns mit niveauvollen Texten beschäftigen, können wir unser eigene Niveau anheben, können an den Texten wachsen. Das war dereinst mir selbst vergönnt und ich möchte dieses Wachstum vielen jungen Menschen ermöglichen. 

Simone Langendörfer: Welche Rolle spielen Eltern beim Thema "Doping für Kinder"? 

 Jörg F. Nowack
Jörg F. Nowack: Was ist richtig und gut, was ist falsch und schlecht für mein Kind? – Das sind die Fragen, vor denen Eltern immer mehr stehen und immer mehr alleingelassen werden. Impfen oder nicht impfen? Auf welchen Rat, welche Empfehlung höre ich, um meinem Kind nicht zu schaden, ihm möglichst nur Gutes zu tun? – Eltern stehen vor diesem Fragenberg, ohne auch nur die geringste Aussicht auf eine unabhängige Beratung zu haben. Wendet man sich vertrauensvoll an den (Kinder-)Arzt, sollte man eine unabhängige und nicht von finanziellen Überlegungen beeinflusste Beratung erwarten können. – Doch was ist die Realität? – Jeder Arzt muss möglichst viele IGEL-Leistungen verkaufen, denn das wird von ihm verlangt. Davon klingelt die Kasse, nicht von der Behandlung kleiner Wehwehchen. Und wenn nun die Vertrauensperson Arzt mir rät, dass ich meinem Kind Medikamente zur Leistungssteigerung verabreichen soll, weil es ihm dann besser geht. Glaube ich ihm dann nicht automatisch, weil ich nur das Beste für mein Kind will?! Insofern ist die Schuldfrage meines Erachtens nach eindeutig geklärt. Es sind nicht die Eltern zu verurteilen, die im Zweifel immer nur das Beste für ihr Kind wollen. Auch diese Schuld ist ganz anderswo zu suchen. 

 Helga König
Helga König: Weshalb sind so viele Kinder trotz materiell guter Bedingungen unglücklich? 

Jörg Nowack: Meiner Meinung nach geht es gar nicht so vielen Kindern materiell so gut, wie immer wieder behauptet wird. Und auch durch fortwährende Wiederholung wird an dieser Aussage nichts wahrer. Wie kann es Familien (und damit auch den Kindern) auch materiell gut gehen, wenn der Lohn beider(!) Eltern kaum reicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken? Ja, ein Urlaub im Jahr ist bei vielen drin, aber dafür wird oft an anderen Stellen – und leider zu oft an der Bildung der Kinder – gespart. Beispielsweise wird von vielen Familien zu oft an guter Literatur gespart. Aber gerade die wäre für eine positive Entwicklung der Sprösslinge oft viel notwendiger und auch förderlicher als manche andere Anschaffung. Wie oft habe ich an der Kasse einer Buchhandlung schon Eltern gesehen, die gleich mehrere Film-CDs kauften, damit die Familie ein schönes und gemütliches Wochenende verbringen konnte. – Bei schönem Wetter, wohlbemerkt! 

Stimmt, das waren keine ›armen‹ Familien, aber ich finde es schon bedenklich, wenn die Beschäftigung in der Familie ausschließlich aus Videospielen und Videos sowie Internet- und Handyspielen besteht. – Gegen all diese Medien ist grundsätzlich nichts einzuwenden, aber wenn der Tag nur daraus besteht, können Kinder doch gar nicht glücklich sein. – Was Kinder brauchen, ist Zeit mit ihren Eltern, Geschwistern Großeltern und Freunden! Wie sollen die Kinder von heute sich von anderen etwas abgucken, wenn sie gar keine Gelegenheit dazu haben? – Vom Rausgehen und Abenteuererleben wie noch zu meiner Kinderzeit ganz zu schweigen! Wenn wir abends vom Spielen heimkamen, sind wir meistens ins Bett gefallen, so müde waren wir vom Herumtoben. – Heute haben manche Kinder gar Schlafstörungen, weil sie nicht genügend rauskommen! – Da ist es doch wahrhaftig nur noch ein kleiner Schritt zu einer Missstimmung, die auch ganz leicht zu einer kindlichen Depression werden kann. Es ist gemeinsame Zeit, gemeinsames Erleben und unbeaufsichtigtes Herumtoben, was vielen Kindern abgeht. Daran ändern auch gute materielle Bedingungen nichts. – Wenn sie denn wahrhaftig vorhanden sein sollten. 

 Simone Langendörfer
Simone Langendörfer:  Sollten Eltern den Ärzten mehr misstrauen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht? 

Jörg F. Nowack: Hier geht es wohl eher um Vertrauen und Vertrauensmissbrauch. Alle Eltern sollten grundsätzlich Vertrauen zu ihrem (Kinder-)Arzt haben dürfen. – Doch woher oder wodurch erfahren junge Eltern schon, wenn ihr Vertrauen potenziell in Gefahr ist, missbraucht zu werden? Ein öffentlicher Pranger für schwarze Schafe ist wohl auch nicht die richtige Lösung. – Leider sind Ärzte in der heutigen Zeit auch Geschäftsleute, die sich, ihre Praxis und ihre Angestellten und sicher noch vieles Weitere bezahlen müssen. Doch das darf doch unter keinen Umständen dazu führen, dass Ärzte Medikamente grundlos verschreiben oder gleich zum teuersten Medikament greifen, das auf dem Markt ist. Doch wer hat schon die Zeit, sich eine Zweitmeinung einzuholen, wenn es nicht gerade um lebensgefährliche Erkrankungen geht? 

Misstrauen ist meiner Meinung nach nicht der richtige Weg. Aber entgegengebrachtes Vertrauen ist ebenso vertrauenswürdig zu behandeln. Ich würde allen Eltern raten, nicht zu zögern, den Arzt zu wechseln, wenn sie den begründeten Verdacht hegen, dass ihr Vertrauen ärztlicherseits missbraucht wurde. 

 Jörg F.  Nowack
Helga  König: Was denken und empfinden Sie, wenn sie ein depressives, ein verträumtes oder ein extrem aufgedrehtes Kind erleben?

Jörg F. Nowack: Jedes Kind ist anders, aber jedes Kind ist richtig, so, wie es ist. Das sollte immer der Grundsatz sein. Ich zum Beispiel war oft verträumt – weil ich eine ausgeprägte Phantasie habe. Ich war oft in mich gekehrt – weil ich mit meiner Phantasie in fremden Welten bin. Ich bin oft und lange in Büchern abgetaucht, die mir phantastische neue Welten zeigten – heute erschaffe ich selbst solche Welten. Das alles war und bin ich. Doch ich war niemals depressiv, nicht krank, bin nicht bewegungsarm aufgewachsen, denn ich war oft in Wald und Flur unterwegs oder im Schrebergarten. Jedes Kind ist anders, aber jedes Kind ist richtig, so, wie es ist. Wir sollten jedes Kind mit seiner eigenen Persönlichkeit annehmen und nicht versuchen, jedes Kind in eine Schablone zu pressen. Das ist noch niemals gelungen und wird niemals gelingen. Doch wenn das versucht wird, kommen leistungsschwache, auffällige und irgendwann auch jede Menge kranke Kinder heraus. – Wehret den Anfängen! Noch können wir alle gemeinsam das Ruder herumreißen. 

Simone Langendörfer
Simone Langendörfer: Was könnten Eltern, Lehrer und die Politik tun, damit Kindern das Lernen wieder Freude bereitet? 

Jörg F. Nowack: Schule muss vor allem wieder interessant werden und den Schülern – wie auch den Lehrern – wieder Freude bereiten! In jeder Schule muss es darum gehen, die Grundlagen zu vermitteln, die man wirklich im Leben benötigt. Und anschließend sollte es darum gehen, jeden Schüler auf hohem Niveau möglichst breitgefächert zu bilden und entsprechend seiner Stärken individuell zu fördern. Dann kann Schule allen Beteiligten Freude machen – von Spaß möchte ich hier ganz bewusst nicht reden, denn wir sehen ja momentan, wohin uns die Spaßgesellschaft gebracht hat. Die Eltern müssen die Forderungen danach laut und deutlich zum Ausdruck bringen. Mittel dazu gibt es genügend. Die Politik schließlich ist dann aufgefordert, genau diese (nicht irgendwelche andere) Forderungen schnellstens umsetzen. Zum Wohl der Schüler, der Lehrer und letztlich der gesamten Gesellschaft. Und wenn die Freude auch bis hinein in die Universitäten wieder Einzug hält, dann ist es möglich, dass bald wieder mehr Nobelpreisträger in Deutschland wohnen und nicht nur hier geboren wurden, wie es im Augenblick leider ist. 

 Helga König
Helga König: Gibt es in Deutschland eine "Armut an Liebe und Geborgenheit"? 

Jörg F. Nowack: Das vermag ich objektiv nicht zu beurteilen. Mein persönlicher Eindruck ist allerdings ein ganz anderer. Doch das kann dadurch bedingt sein, dass ich mich schon seit Jahren ausschließlich mit Menschen umgebe, die mir guttun. Diesem Beispiel sollten möglichst viele Menschen folgen, dann würden Liebe und Geborgenheit in der Gesellschaft noch weitaus mehr in Erscheinung treten können. 

Simone Langendörfer: Warum sind gerade in Deutschland so viele Menschen unzufrieden und unglücklich? 

Jörg F. Nowack: Das ist einerseits sicher mentalitätsbedingt, andererseits wird jedem Einzelnen durch die Medien tagtäglich vermittelt, dass sie bzw. er gar nicht zufrieden sein KANN. – Gerade die Rolle der Massenmedien ist bei dieser Problematik kräftig zu hinterfragen. Doch dafür bin ich nicht informiert genug. Ich sehe seit vielen Jahren nur sehr wenig fern, lese keine Zeitung mehr – und doch finden für mich wichtige Informationen sehr schnell ihren Weg zu mir. 

Lieber Jörg F.  Nowack, wird danken Ihnen für das aufschlussreiche Interview.

Ihre Simone Langendörfer, Ihre Helga König 

1 Kommentar:

  1. Jörg F. Nowack hat Recht. Ob Eltern heute die richtigen Entscheidungen für ihr, meist einziges, Kind treffen ist vom glücklichen Umstand der umgebenenden Personen wie Lehrer, Ärzten und auch schon der Kindergartenbetreuung abhängig. Dazu kommen oft noch eingespannte Eltern, die nicht mehr täglich die Ruhe aufbringen ihrem Kind beim Prozess des Nachdenkens zur Seite zu stehen, denn alles wird terminlich erledigt, auch die seelische Zuwendung. Früher gab es den Slogan für Erwachsene "höher, schneller, weiter", der mittlerweile auch bei Kindern im Vorschulalter seine Anwendung findet. Ein erster Umdenkungsprozess müsste im Lernsystem statt finden, aber dort wird die Verantwortung fast stoisch zwischen Bund und Ländern hin- und hergeschoben, dazu noch ein wenig Kompetenzgerangel zwischen und mit den einzelnen Institutionen wie Kinderschutzbund und ähnlichen Organsisationen, und schon ist das Chaos perfekt. Darüber sind jetzt schon Generationen von Kindern in die heutige Zeit entlassen worden, ohne das jemals ein Problem erntshaft angegangen worden ist. Nicht einmal etwas so einfaches wie Ganztagsschulen - viele verpasste Chancen.

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